Zwei breit gebaute Menschen, die wie Statuen auf der Bühne stehen, von Minne und Wonne erzählen und sich liebevoll dabei anschreien: Dies war in der allgemeinen Vorstellung jahrzehntelang das Bild einer Wagner-Aufführung – auch bei Waltraud Meiers Mutter. „Als ich anfing, Wagner zu singen, musste ich echte Überzeugungsarbeit leisten“, berichtet die Sängerin. „Meine Mutter erinnerte sich noch an die vorwiegend beleibten Sängerinnen aus den Aufführungen ihrer Jugend.“ Spätestens als die eigene Tochter 1983 erstmals ihren Fuß auf Bayreuther Boden setzte, dürfte selbst Mutter Meier deren Übermacht für beendet erklärt haben: Mit der Stimme ebenso phänomenal wie im Ausdruck, sportlich schlank und sich behände durch sämtliche Regievorgaben turnend, eine große Schauspielerin, gehörte Waltraud Meier nach ihrem blendenden Kundry-Debüt im „Parsifal“ bald zu den Dauergästen auf dem Grünen Hügel. Bis 2000 war sie jährlich in unterschiedlichen großen Partien bei den Bayreuther Festspielen zu erleben, als Legende kehrte sie nach längerer Auszeit 2018 – als Ortrud in Neo Rauchs bläulich gehaltenem „Lohengrin“ – ein letztes Mal dorthin zurück. 35 Jahren waren seit ihrem Debüt vergangen, doch ihre Stimme hatte keine Kratzer abbekommen – und das in einem Genre, das von vielen als das gefährlichste überhaupt angesehen wird und so viel Ehrfurcht verbreitet, dass man ihm einen eigenen Namen verpasst hat: Wagnergesang.
Was hält die „Wagnersängerin“ Waltraud Meier von diesem Begriff? „So etwas wie einen Wagnergesang gibt es gar nicht“, stellt sie fest, „es gibt nur eine gut ausgebildete Stimme, die fähig ist, auch Wagner zu singen.“ Und doch: Ein charakteristisches Hauptmerkmal unterscheidet Wagner von anderen Komponisten. „Es stimmt tatsächlich, dass die Bedeutung von Gesang und Wortgestaltung hier in einem viel dichteren Verhältnis stehen, nämlich 50:50. Dabei geht es nicht nur um die Bedeutung des Wortes, denn der Text selbst ist schon Musik. Man merkt es etwa daran, wie genau Wagner klingende und scharfe Konsonanten einsetzt, welche Vokale er an welcher Stelle benutzt. Nicht umsonst war er sein eigener Textdichter.“
Auch wenn die deutsche Sprache gewiss Schöneres hervorgebracht hat als Wagners „Worttonmelodie“, mit der er in in seiner Schrift „Oper und Drama“ diese Symbiose aus Text und Musik beschrieben hat: Der Begriff dürfte das, was man unter „Wagnergesang“ versteht, besser treffen als die Vorstellung übermenschlicher, reserveverschlingender Kraftentfaltung. Was die rein gesangstechnische Grundlage angeht, lautet Waltraud Meiers Credo: „Auch Wagner muss ‚belcanto‘ gesungen werden.“
Die meisten verstehen unter dem Begriff Belcanto eine musikgeschichtliche Epoche, die von den melodienreichen, bravourariengespickten Opern eines Rossini, Donizetti und Bellini geprägt wurde. Allgemeiner gesprochen handelt es sich bei Belcanto vor allem aber um eine Gesangstechnik, die besonderen Wert legt auf Weichheit des Tons, ausgeglichene Stimmregister, Legato und Flexibilität. Nichts anderes hatte Wagner selbst im Sinn, als er von der Errichtung einer auf die Interpretation seiner Werke spezialisierten „Stilbildungsschule“ träumte, was sich aber weniger herumgesprochen zu haben scheint als sein nationalistischer Duktus, der heute mitunter einen Nachhall in stimmlicher Kraftmeierei auf der Bühne findet.
„Schon in meinen Meisterkursen kann ich oft feststellen, dass Sänger bei Wagner Lautstärke mit Ausdruck gleichsetzen“, sagt Waltraud Meier. Oft komme es zu einem regelrechten Hochschaukeln. „Wenn man dann auf der Bühne steht, und der Kollege vor einem beginnt, mit voller Lautstärke dreinzuschlagen, glauben viele, dass sie mindestens mit dem gleichen Level gegenhalten müssen.“ Als Beispiel führt sie den Waldvogel aus dem zweiten „Siegfried“-Aufzug an, der sich neben einem viel zu lauten Titelhelden schnell im Volumen anpasst. Doch selbst wenn man seine Stimme nicht durch übermäßige Kraftanstrengung strapaziert, bleibt Wagner ein gefährliches Terrain. „Falsche Technik ist das eine, denn wie mein Lehrer schon sagte: An einer Dorabella aus Mozarts ‚Così fan tutte‘ kann man sich genauso versingen. Bei Wagner-Partien besteht die größte Herausforderung jedoch auch in der schieren Länge“, sagt Waltraud Meier und führt als Beispiel Isolde an, die die ersten beiden Aufzüge fast ununterbrochen auf der Bühne steht und singt. 1993 debütierte sie in dieser Rolle auf dem Grünen Hügel, bis 2014 glänzte sie damit nicht nur in Bayreuth, sondern auch an anderen großen internationalen Häusern – eine Paraderolle mit der sie, die Mezzosopranistin, erstmals ins Stimmfach des dramatischen Soprans vordrang.
„Oft bin ich nach einer Isolde von der Bühne gegangen und habe mir vorgestellt, wie viele tausend Mal meine Stimmbänder an diesem Abend aneinandergeschlagen haben – das hat mir ganz schönen Respekt eingeflößt.“
Seitdem sie, als Ensemblemitglied in Mannheim und Dortmund, mit Partien wie Waltraute, Erda oder Fricka begonnen hatte, brachte Waltraud Meier nur der Bayreuther Isolden-Einstand in Schwierigkeiten mit einer Wagner-Partie. „Es war teilweise so anstrengend, dass ich mir sagte: Wenn es nicht besser wird, mache ich das im nächsten Jahr nicht mehr.“ Es wurde besser, Körper und Stimme verleibten sich die Rolle ein, und der Rest ist Musikgeschichte. Eine der wichtigsten Faktoren: Erholung. „Mindestens drei Tage sollten zwischen zwei Wagner-Aufführungen liegen, und in der Tat habe ich immer darauf geachtet, maximal einmal etwa 65 Vorstellungen im Jahr zu singen“, berichtet Waltraud Meier. Für die Zeit zwischen zwei Aufführungen empfiehlt sie: „Schnauze halten.“ Man müsse ja nicht so weit gehen wie ihre große Kollegin Christa Ludwig, die zwei getrennte Hotelzimmer für sich und ihren Mann zu buchen pflegte, um nicht Gefahr zu laufen, zu viel zu sprechen. Schonung in gewissem Umfang müsse aber sein. „Oft bin ich nach einer Isolde von der Bühne gegangen und habe mir vorgestellt, wie viele tausend Mal meine Stimmbänder an diesem Abend aneinandergeschlagen haben – das hat mir ganz schönen Respekt eingeflößt.“
Fatal, nicht nur im Wagner-Fach, ist die oft ehrgeizgetriebene Unfähigkeit „nein“ zu sagen. „Als ich mich mit Isolde vom Mezzo ins dramatische Fach begeben habe, wusste ich, was ich meiner Stimme zutrauen und welchen Umfang ich ausschöpfen kann“, berichtet sie. Anders im Fall der drei Brünnhilden aus dem „Ring des Nibelungen“, die sie aufgrund der kaum von einer einzigen Sängerin erfüllbaren Anforderungen kategorisch ablehnte – auch wenn sie prestigeträchtige Angebote hierfür bekam. Zudem hält es Waltraud Meier auch karrieretechnisch nicht für ratsam, sich schon in jungen Jahren in allen möglichen Wagner-Partien auf der Bühne zu verwirklichen. Das gilt im Übrigen auch für andere dramatische Partien „Mit was möchte man sein Publikum denn später noch überraschen?“
Zur Stimmhygiene, sagt Waltraud Meier, gehöre ganz entschieden auch die Abwechslung. „Ich habe immer auf Balance geachtet“, sagt die Sängerin, die neben dem „schweren“ Fach (zu dem neben Wagner auch die großen Partien von Verdi, Alban Berg oder Richard Strauss zählen) immer auch anderes Repertoire gesungen hat – ungefähr im Verhältnis 50:50. Manchmal ist es sogar angebracht, eine längere Auszeit von der Bühne zu nehmen. „Das ganze Jahr 2003 etwa habe ich ganz bewusst ohne Oper verbracht“, erinnert sie sich. „Das habe ich ganz bewusst getan – nur Konzerte und ganz viel Lied. Interessanterweise habe ich die Oper überhaupt nicht vermisst.“ Die stimmliche Entschlackungskur wirkte Wunder. „Die erste Partie, die ich nach diesem opernfreien Jahr gesungen habe, war Kundry. Und ich stellte fest: Sie war anders, nicht weniger kraftvoll, aber ich hatte auf einmal solche Kontrolle über den Gesang, dass ich mir dachte, das muss ich mir bewahren.“ Wieder kommt sie vor diesem Hintergrund auf ihr Credo zurück: „Bei Wagner ist es nicht anders als in der italienischen Oper. Der Stimmansatz muss vom Belcanto kommen.“