Obere Absätze
Publikum beim Deutschen Chorfest 2025 in Nürnberg
Deutsches Chorfest 2025 in Nürnberg  
Foto:  Uwe Niklas

Wer im Chor singt, kann sich oft kein schöneres Hobby vorstellen. Die Zahl verbandlich organisierter Chöre hat in den letzten Jahren jedoch abgenommen. Die Geschäftsführerin des Deutschen Chorverbands, Veronika Petzold, erläutert die Hintergründe und spricht über die vielfältigen Aufgaben ihres Verbands.

Deutschland um 1900: das Land der Dichter und Denker, aber auch der Männergesangsvereine und Arbeiterchöre. Mit ihrem Hinweis auf die beiden großen Traditionslinien umreißt Veronika Petzold die historische Bedeutung jener Institution, die sie seit fast zwei Jahrzehnten als Geschäftsführerin betreut: den Deutschen Chorverband (DCV), der 2005 aus dem Zusammenschluss des „bürgerlich“ ausgerichteten, 1862 ins Leben gerufenen Deutschen Sängerbunds und des 1908 als Deutscher Arbeiter-Sängerbund gegründeten Deutschen Allgemeinen Sängerbunds hervorgegangen ist.

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Historische Bildpostkarte der Festhalle des 7. Sängerbundfestes 1907 in Breslau
Historische Bildpostkarte der Festhalle des 7. Sängerbundfestes 1907 in Breslau  
Foto:  Digitalisat Universität Osnabrück, Sammlung Prof. Dr. Sabine Giesbrecht

Damit gemeinschaftliches Singen in Deutschland auch zukünftig allgegenwärtig nicht nur im kirchlichen oder professionellen Rahmen stattfindet, der kulturelle Wert und positive Einfluss des Amateurmusizierens auf die Gesellschaft erhalten bleibt, hat der DCV eine Reihe von Projekten und Maßnahmen geschaffen, mit denen er die Interessen seiner 21 regionalen Mitgliedsverbände und der darin organisierten 12.500 Chöre verfolgt. Neben Beratungs-, Bildungs- und Informationsangeboten wie dem regelmäßig abgehaltenen Branchentreffen chor.com oder dem Verbandsmagazin „Chorzeit – das Vokalmagazin“ sticht das Deutsche Chorfest besonders heraus: eine öffentlich präsentierte Feier der Vielfalt und Qualität der deutschen Chorlandschaft, die alle vier Jahre hunderte von Ensembles an einem Ort versammelt und 2025 in Nürnberg stattgefunden hat. Für den DCV die glanzvolle Kür neben eine Reihe weiterer Aufgaben, die für die Amateursänger:innen mal mehr, mal weniger sichtbar sind. 

„Der unmittelbare Kontakt mit den Chören und Ensembles findet vor allem in den regionalen Chorverbänden statt; das gilt aufgrund der föderalen Strukturen in der Kulturpolitik auch für den Austausch mit der Politik“, berichtet Veronika Petzold. „Auf Bundesebene aber gehört die politische Interessenvertretung zu unseren wichtigen Aufgaben.“ Von Vorteil ist dabei, dass mit dem ehemaligen Bundespräsidenten und niedersächsischen Landesvater Christian Wulff ein gut vernetzter Politprofi das Amt des DCV-Präsidenten versieht. Doch nicht nur die große Politik, auch ganz konkrete Anliegen bilden die Schwerpunkte der Verbandsarbeit, etwa Versicherungsangelegenheiten. Damit Klassiker wie verlorene Schlüssel oder versehentlich nicht abgedrehte Wasserhähne nicht zu existenzbedrohenden Katastrophe führen, sind Mitglieder über den Bundesverband und seinen Vertragspartner zentral versichert. „Ein weiterer Punkt ist das Thema GEMA. Als DCV sind wir für alle unsere Mitgliedschöre Vertragspartner mit der Verwertungsgesellschaft und verhandeln mit ihr die zentralen Verträge“, sagt Petzold. „Mitgliedschöre können über uns Preisnachlässe bei den Tarifen bekommen, wir helfen auch bei der Meldung von Konzerten, und zu unseren zentralen Leistungen gehört ebenfalls, dass wir das entsprechende Wissen auch auf die Landesverbände übertragen.“ Ein reichhaltiges Serviceangebot, von dem eine der größten Gruppen unter den singenden Amateurmusizierenden Deutschlands profitiert.

Chor Vivid Voices beim Deutschen Chorfest 2025
Chor Vivid Voices beim Deutschen Chorfest 2025  
Foto:  Katharina Gebauer
Konzert des Frauenchors acquire beim Deutschen Chorfest 2025
Konzert des Frauenchors acquire beim Deutschen Chorfest 2025  
Foto:  Uwe Niklas
Choreografie eines Chors beim Deutschen Chorfest 2025
Deutsches Chorfest 2025  
Foto:  Uwe Niklas
Abendstimmung auf dem Hauptmarkt in Nürnberg beim Deutschen Chorfest 2025
Hauptmarkt in Nürnberg beim Deutschen Chorfest 2025  
Foto:  Katharina Gebauer

Noch größer als die Anzahl der DCV-Chöre ist in Deutschland derzeit nur die der evangelischen Kirche. Was beide Gruppen indes gemeinsam haben: Trotz allgemeinem Aufwärtstrend beim Amateurmusizieren in Deutschland (nachzulesen in der Amateurmusikstudie des miz) ist die Anzahl der verbandlich oder kirchlich organisierten Chöre in den vergangenen Jahren kontinuierlich gesunken. Eine Entwicklung, die sich bereits vor der 2020 einsetzenden Pandemie deutlich abzeichnete. Einen ausschlaggebenden Grund dafür sieht Veronika Petzold in den immer gravierenderen Lücken in der Ausbildung. In den vergangenen Dekaden hat sich hier eine Art Teufelskreis entwickelt.

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Das miz verzeichnet in seiner Statistik  die Mitglieder der Instrumental- und Chorverbände und zeichnet die Entwicklung der letzten Jahre nach.

„Das Singen in den Schulen, aber auch in der Kita findet immer weniger statt, und es gibt auch immer weniger kompetente Fachkräfte, die Gesangsgruppen in diesen Bereichen leiten können.“ Was früher gang und gäbe war, gerate heute durch Akzentverschiebungen in der (früh)kindlichen Bildung immer mehr aufs Abstellgleis. Nur: Wer als Kind nicht das freudige Erlebnis am Singen mit anderen gemacht hat, fängt üblicherweise im fortgeschrittenen Alter nicht mehr damit an. Bereits im Jahr 2000 hatte der DCV dieses Problem erkannt und mit den „Carusos“ eine Initiative ins Leben gerufen, die sich darum bemüht, das gemeinschaftliche Singen im Tagesablauf von Kita- oder Kindergartenkindern zu verankern und die Mitarbeitenden entsprechender Einrichtungen durch ehrenamtliche Fachberater:innen pädagogisch zu begleiten. 

„Auch in anderen Bereichen sehen wir Probleme, die mit defizitärer Ausbildung in Verbindung stehen“, sagt Petzold und blickt dabei vor allem auf die Entwicklungen in den ländlichen Regionen. „Früher gab es quasi in jedem Dorf einen Gesangverein – und irgendjemanden, der, meist ehrenamtlich und ‚nebenher‘, die Leitung übernommen hat.“ Gerade in der Chorleitung gäbe es inzwischen große Defizite, was Petzold ebenfalls auf den Rückgang der musikalischen Bildung zurückführt, die einerseits Amateurmusizierende nicht in die Lage versetzt, die anspruchsvolle Probenarbeit mit einem Chor zu organisieren und andererseits nur wenig professionellen Nachwuchs hervorbringe. Dieser hingegen müsse von seiner Profession aber auch leben können, was bei der Arbeit mit dem einzigen Ensemble vor Ort jedoch regelmäßig nicht möglich ist. „Heute hat man eher den Fall, dass Dirigent:innen gleich mehrere Chöre betreuen“, sagt Petzold, „das heißt aber auch, dass sie auf einen Standort angewiesen sind, an dem es eine größere Auswahl gibt.“ Von diesem Phänomen wiederum profitieren die urbanen Räume – und in der Tat sieht der Verband durchaus positive Trends in den größeren und großen Städten, wo gleichzeitig zum gestiegenen Anspruch an die Chorleitung eine Verbesserung der musikalischen Qualität und Mitgliederzahlen zu beobachten sei.

„Chöre sind ein ganz wichtiger gesellschaftlicher Player.“
Autor
Veronika Petzold, Geschäftsführerin des Deutschen Chorverbands

Auch das Repertoire der Chöre, die im DCV organisiert sind, hat sich in den vergangenen Jahren deutlich diversifiziert. „Am Brunnen vor dem Tore“ mag nach wie vor bei einigen im Kurs stehen, doch neben traditioneller und klassisch-romantischer Chorliteratur haben sich längst auch aktuellere Musikrichtungen aus Jazz, Pop und Rock ihren Rang erobert, aber auch andere wie Shanty- oder Barbershop-Gesang. Zudem sind es längst nicht mehr nur Herren gesetzteren Alters, die ihre Stimme zum gemeinschaftlichen Singen erheben. Neben gemischten Ensembles gibt es eine Vielzahl reiner Frauen- oder Mädchenchöre sowie viele Kinder- und Jugendchöre. Ein weiterer Umbruch, von dem sich Veronika Petzold eine positive Entwicklung für die deutsche Chorszene vorstellen kann, ist der Trend zu freieren Organisationsformen. „Singen kann man auch ohne Vereinsregisterauszug“, sagt die DCV-Geschäftsführerin – und meint damit Menschen, die sich zu einzelnen Projekten zusammenschließen, etwa weil sie gemeinsam ein bestimmtes Werk aufführen oder erst einmal ausprobieren möchten, wie sich das Singen mit anderen anfühlt. Aktuell trifft dies laut Amateurmusikstudie des miz (2025) auf 21 Prozent der erwachsenen Menschen zu, die in ihrer Freizeit singen. Der Trend zum Singen als Gemeinschaftserlebnis scheint somit letztlich ungebrochen zu sein, auch wenn sich viele dabei zunächst nicht in einer festen Organisationsform binden lassen wollen. „In vielen Fällen entwickelt sich aus diesen Projektchören mehr, und das zeigt, dass Singen als soziales Phänomen – auch wenn es heute nur eines von vielen Freizeitangeboten ist – immer noch eine Rolle spielt“, sagt Veronika Petzold. „Und spätestens, wenn die erste GEMA-Rechnung ins Haus flattert, kommen viele eher lockere Vereinigungen auf den Gedanken, sich anders zu verfassen und beispielsweise einen Verein zu gründen.“ Neue Kundschaft also für den DCV. 

Auch wenn die Ergebnisse der neuen Mitgliederbefragung (Stand April 2025) noch nicht vorliegen, ist sich Veronika Petzold sicher, dass der Verband mindestens mit stabilen Zahlen rechnen kann – zumal einige der assoziierten Verbände einen Mitgliederanstieg zu verzeichnen haben. „Generell hatten wir schon immer ein gewisses Nord-Süd-Gefälle, an dem sich auch ablesen lässt, welche finanziellen Förderungen Amateurchöre in den einzelnen Bundesländern erhalten.“ Vor dem Hintergrund des generellen Trends spielen sich die positiven Entwicklungen hauptsächlich auch in Regionen mit großen Städten ab, aktuell etwa in Berlin. Und dass das gemeinschaftliche Singen derzeit einen Aufschwung erlebt, mag auch mit der Pandemie zusammenhängen – einer Zeit, in der viele Menschen erstmals leidvoll erfahren mussten, wie sich ein Leben mit sozialen Einschränkungen anfühlt. Für viele schon einmal ein Ausblick aufs Alter – denn dieser Lebensabschnitt droht häufig mit Vereinsamung einherzugehen: ein Schicksal, dem sich gerade durch langjähriges Singen in der Gemeinschaft positiv vorbeugen lässt. „Schon aus diesem Grund sind Chöre ein ganz wichtiger gesellschaftlicher Player“, konstatiert Veronika Petzold. Und auch diese Einsicht könnte eine große Chance für das Amateurmusizieren in Deutschland sein.

Über den Autor

Stephan Schwarz-Peters arbeitet als freischaffender Journalist und Redakteur u. a. für das Tonhalle Magazin, die Philharmonie Köln sowie die Magazine Rondo und Oper!