Obere Absätze
Christiane Oelze mit einer Sängerin beim Coaching
Christiane Oelze als Gesangscoach  
Foto:  Natalie Bothur

Die Stimme von Christiane Oelze ist weltbekannt, doch niemand kennt sie so gut wie sie selbst. Beste Voraussetzung nicht nur für eine internationale Karriere, sondern auch, um anderen als Gesangscoach beim Entdecken, Entwickeln und Heilen der Stimme zu helfen.

Eine Stimme hat jeder. Aber wie – und wann? – stellt man fest, ob sie sich fürs Singen eignet? Im Fall von Christiane Oelze schon als Kind: „Ich wusste schon mit vier oder fünf Jahren, dass meine Stimme schön klang. Und etwas ganz Entscheidendes kam noch hinzu: Ich hatte von Anfang an ein besonderes Empfinden für Melodie und Tonqualität.“ Ein Maß an Musikalität also, das es erlaubt, in eine tiefere Verbindung mit seinem Instrument zu treten und dessen Möglichkeiten zu erforschen. Um es zu beherrschen, bedarf es aber noch einer weiteren wichtigen Voraussetzung: „Das stimmliche Organ, das wir alle haben, ist immer sehr intensiv an unseren Gefühlsregungen beteiligt. Es erzeugt Schluchzen, Weinen, Lachen…“ Emotionale Ausdrucksweisen also, die sich auch in der Musik wiederfinden. „Ich denke, dass sich Leute, die in dieser Hinsicht eine gewisse Extrovertiertheit zeigen, für den Sängerberuf besonders gut eignen.“ 

Mit ihrem Gesangsstudium lag Christiane Oelze vollkommen richtig. Das beweist die eindrucksvolle Karriere, die die Sopranistin seit Ende der 1980er-Jahre durch die Konzert- und Opernhäuser der ganzen Welt führte. Quasi mit allen bedeutenden Orchestern, Dirigent:innen und Gesangskolleg:innen arbeitete sie zusammen. Ihr von der Mozart-Oper bis zur Mahler-Sinfonie, von der Bach-Kantate bis zur zeitgenössischen Musik reichendes Repertoire ist mit über 300 Studio-Alben und Livemitschnitten auch diskografisch gut dokumentiert. Und dass Christiane Oelze nicht nur weiß, wie man singt, sondern auch, wie man lange singt, zeigt schließlich die Tatsache, dass ihre Stimme selbst mit Anfang 60 nichts an Klang, Volumen und Flexibilität verloren hat. Um andere von ihren Erfahrungen profitieren zu lassen, betreibt sie heute in ihrer Heimatstadt Köln ein Coachingstudio für Profisänger:innen und ambitionierte Amateur:innen. Professionelles Wissen, Empathie und ein scharfes Gehör sind die Mittel, die ihr helfen, die Probleme und Bedürfnisse ihrer Klient:innen zu erkennen und gemeinsam mit ihnen an individuellen Lösungen zu arbeiten.

Falsche Technik, physische und psychische Belastung, hormonelle Umstellung des Körpers – und vor allem der Drang, zu früh zu schwere Partien zu singen: Die Gefahrenliste für die Profi-Stimme ist lang. Selbst die sonst so unerschütterliche Christiane Oelze kann sich an Zeiten erinnern, in denen sie selbst mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, die durch ihre Scheidung und den Tod der Eltern ausgelöst wurden. „In solchen Momenten merkt man deutlich, dass die Stimme ein sensorisches Instrument ist, an dem der ganze Mensch dranhängt“, sagt sie, „man befindet sich in einer Art schizophrenem Zustand, und nur indem ich mich absolut auf die Musik konzentriert habe, konnte ich in dieser Zeit singen.“ Immerhin bescherte ihr die Krise den ersten Praxiskontakt mit dem Thema Coaching. Denn auch wenn sie bis heute nichts Grundsätzliches an ihrer Technik auszusetzen hat, beschloss sie mit Anfang 50, sich einer Art sängerischen Generalinspektion zu unterziehen. „Es ist nun einmal so, dass die meisten Gesangsausbildungen an Hochschulen bei weitem nicht ausreichen, um eine Karriere von 30 bis 40 Bühnenjahren zu ermöglichen.“

In London fand Christiane Oelze einen renommierten Coach, der schon anderen berühmten Kolleg:innen weiterhelfen konnte und ihr anhand bestimmter Übungen eine vertiefte Unterweisung in der italienischen Belcanto-Technik ermöglichte. Bewusst wurde ihr dabei noch einmal vor Augen geführt, was den eigentlichen Kern der Gesangsausbildung ausmacht. „Eigentlich bildet man gar nichts aus, sondern legt das frei, was bereits natürlich vorhanden ist“, sagt Christiane Oelze. Sie selbst hat beglückende Erfahrung gemacht, dass sich für sie das Singen nach all den Jahren und trotz professionellen Studiums und Gebrauchs der Stimme noch immer so anfühlt wie das unbekümmerte Trällern in ihrer Kindheit. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund fühlt sie sich als Coach in gewisser Weise auch als Entwicklungshelferin – neben „Komikerin“ ein weiterer alternativer Berufswunsch aus Kindheitstagen.

Wie beim Arzt erfolgt auch beim Coaching zunächst eine Anamnese. „Dabei ist es wichtig, nicht nur die Selbsteinschätzung zu erfahren, sondern auch herauszufinden, auf welchen Methoden der bisherige Unterricht beruhte“, sagt Christiane Oelze, die sich häufig wundert über die noch heute in der Gesangsausbildung kursierenden fragwürdigen, demotivierenden und zur völligen Überforderung führenden Ansätze. „Als Erstes lasse ich mir eine Arie oder ein Lied vorsingen, um zu hören, in welche Richtung die Stimme geht, was läuft, welche Lage gut anspricht und wie klar die Vokale sind. Relativ schnell wird deutlich, wo die technischen Defizite liegen und wie ich den Sänger:innen zu mehr Leichtigkeit in ihrem Gesang, auch der Interpretation und Ausdruck verhelfen kann. Ich gebe sehr viele Tipps für musikalische Gestaltung, was längst nicht alle Coaches machen.“ Die Herausforderung besteht nicht nur darin, die Probleme zu erkennen, sondern auch ihre Zusammenhänge zu analysieren. Während eine Geigenlehrerin oder ein Klavierlehrer offensichtliche Fehlhaltungen durch Anweisungen wie „linker Arm höher“ oder „weniger Kraft in den Fingern“ unmittelbar beeinflussen können, muss sich ein Gesangs-Coach allein mithilfe des Gehörs zunächst ins Körper- und Seeleninnere der Klient:innen hineinversetzen. „Hören meint hier eher ein sensorisches Empfinden“, sagt Christiane Oelze – ein Schlüsselwort.

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Christiane Oelze mit einer Sängerin beim Gesangscoaching
Christiane Oelze mit einer Sängerin beim Gesangscoaching  
Foto:  Natalie Bothur

Anders als das „mechanische“ Üben von Instrumenten, das auf die Dinge gerichtet ist, die noch nicht ausreichend beherrscht werden, sollten sich Sänger:innen auf das konzentrieren, was sie ohne Probleme bewältigen können; denn nur von dem, was sich richtig und natürlich anfühlt, können sie lernen. „Auf diese Weise schafft man ein sensorisches Gedächtnis, der Kehlkopf erinnert sich an das, was gut funktioniert, und so geht die Stimme – Stück für Stück – immer weiter auf.“ Wie ihr eigener Coach hat Christiane Oelze für ihre Schüler:innen eine Reihe von Übungen entwickelt, die auf der Grundlage der klassischen Gesangstechnik des „Belcanto“ beruhen. Dass sich dieser wörtlich mit „Schöngesang“ zu übersetzende Begriff ausschließlich auf italienische Opernmusik bezöge, ist übrigens ein populärer Irrtum. Doch nicht nur mit Übungen, auch durch die Verbindung zwischen Bildern und Klängen zielt Christiane Oelze beim Coaching auf das sensorische Empfinden ihrer Schüler:innen ab. Dass die Menschheit nicht zuletzt durch den Einfluss der Medien heute deutlich visueller und weniger auditiv geprägt ist als in früheren Zeiten, ist eine Tatsache, die längst schon in der „Ton“-Kunst und auch im Gesang ihre Spuren hinterlassen hat. Und da, wie Christiane Oelze bereits treffend formulierte, die Stimme ein Instrument sei, an dem „der ganze Mensch dranhänge“, kommen beim Coaching noch weitere, sehr persönliche Aspekte hinzu. 

„Die Profis, Gesangsstudierenden und Amateursänger:innen kommen aus den unterschiedlichsten Gründen zu mir. Der Selbsteindruck, den sie mitbringen, variiert manchmal zwischen völliger Überschätzung und übermäßiger Selbstkritik“, berichtet Christiane Oelze. In manchen Fällen gehe es regelrecht darum, Traumata aus vorangegangenen Unterrichtserfahrungen zu beseitigen. „Es ist gewiss auch ein großer Therapieanteil dabei, nie behandelt man als Gesangscoach nur die Stimme, und man merkt schon recht schnell, welche Menschen vor einem stehen, ob sie introvertiert oder temperamentvoll sind, und aus welchen Gründen sie singen möchten.“ Dass sie sich in ihren Sitzungen nicht auf jede Befindlichkeit einlassen kann, verbietet schon die Zeit. Doch auch wenn Christiane Oelze nicht mit den Mitteln professioneller Psychotherapie arbeiten kann und sich auf das Singen beschränken muss, beobachtet sie doch immer wieder, wie sich allein dadurch die erstaunlichsten Persönlichkeitsentwicklungen ergeben können. „Für manchen Schüler ist unsere gemeinsame Stunde das Highlight der Woche, und sie sind berauscht, wenn sie merken, dass sie ein bestimmtes Lied, eine bestimmte Arie auf einmal schön singen können“, sagt sie, „und das genügt ihnen auch, sie streben nicht einmal einen öffentlichen Auftritt an. Und falls es doch dazu kommt, erlebe ich oft wirklich schöne Momente, wenn ich sehe, wie sie dabei ihre sängerischen Flügel ausbreiten.“ Am Ende sei es eben doch so, dass der eingeborene Sangestrieb selbst in einer von digitalen Ablenkungen überfluteten Welt noch unvermindert fortbesteht. „Die Stimme ist Ausdruck der freien Persönlichkeit, der freien Seele. Und diese ist und bleibt die tiefste Sehnsucht des Menschen.“

Über den Autor

Stephan Schwarz-Peters arbeitet als freischaffender Journalist und Redakteur u. a. für das Tonhalle Magazin, die Philharmonie Köln sowie die Magazine Rondo und Oper!