Seit die Historische Aufführungspraxis von den 1950er-Jahren an den Schritt auf große, internationale Bühnen gemacht hat und zahlreiche Tonaufnahmen erschienen sind, ist sie aus dem Alltag unseres Musiklebens nicht mehr wegzudenken. Ihre Techniken und musikwissenschaftlichen Erkenntnisse beeinflussen inzwischen auch den Mainstream der Klassischen Musik, der auf modernen Instrumenten ein breit gefächertes Repertoire insbesondere des 19. Jahrhunderts abdeckt, mit wenigen Ausnahmen das Repertoire vor Joseph Haydn allerdings überwiegend den Spezialensembles und -künstler:innen überlässt. Auch personell kommt es zunehmend zu Durchmischungen, und im Instrumentarium sind immer häufiger Mischformen anzutreffen (z. B. durch die Kombination moderner Streichinstrumente mit historischen Bögen). Was die musikalische Ästhetik anbelangt, profitieren die modernen Ensembles von der Historischen Aufführungspraxis vor allem in Fragen der Verzierungen, des Tempos, der Artikulation oder der Texttreue. Gleichzeitig gründen sich – quasi gegenläufig zum Trend in Richtung Permeabilität zwischen Historischer und Moderner Aufführungspraxis – unablässig hochspezialisierte Ensembles im Bereich der Alten Musik, die sich in ihrer Nische höchste Expertise aneignen.
Was im Konzertalltag akzeptierte Realität geworden ist, findet sich auch im Hochschulalltag wieder. Kaum eine Hochschule [1] gestaltet ihre Curricula gänzlich ohne die Historische Aufführungspraxis. Die Spannbreite reicht von Hochschulen, in denen einzelne Vorlesungen zum Thema angeboten werden, bis hin zu solchen, deren Institute für Alte Musik internationale Aufmerksamkeit erfahren, was etwa die in den Hochschulen von Bremen, Trossingen, Köln oder Freiburg tätigen Lehrkräfte und die Attraktivität auch bei ausländischen Studierenden anbelangt. Die Veranstaltungen zu den Themen Historischer Aufführungspraxis richten sich dabei oft nicht nur an die Studierenden der Alten Musik; ein gewisses Maß an Beschäftigung mit Historischer Aufführungspraxis wird auch von Studierenden moderner Instrumente erwartet. Hier kann von einer Wechselwirkung gesprochen werden: Im späteren Berufsalltag wird zunehmend Vertrautheit mit Historischer Aufführungspraxis verlangt, die im Studium erworben wird, auf der anderen Seite prägen Absolvent:innen mit substanziellem Wissen um Historische Aufführungspraxis die Musizierpraxis des Berufsalltags.
Im Folgenden soll es darum gehen, welche Möglichkeiten Studierende an deutschen Musikhochschulen haben, sich mit der Historischen Aufführungspraxis und ihrem Repertoire auseinanderzusetzen, inwiefern diese Ausbildung für die eigene künstlerische und berufliche Zukunft relevant sein kann und inwiefern das Studienangebot der Hochschulen die künstlerisch-wissenschaftlichen Anforderungen abdeckt, die ein Umgang mit der Historischen Aufführungspraxis auf professionellem Niveau im Berufsleben erfordert.
Von den Anfängen bis heute
Wenngleich es in Deutschland schon deutlich früher Akteur:innen im Bereich der Historischen Aufführungspraxis gab, wurde die erste Möglichkeit, an einer deutschen Hochschule ein Studium auf einem historischen Instrument zu absolvieren, erst 1946 bei der Gründung der Hochschule für Musik Freiburg geschaffen. [2] 13 Jahre nach der Gründung der Schola Cantorum Basiliensis als privates Lehr- und Forschungsinstitut verschrieb sich die Hochschule ganz der Historischen Aufführungspraxis und konnte von Anfang an ein außerordentliches Renommee vorweisen. [3] Es folgten sehr bald Versuche, Studienangebote für Historische Aufführungspraxis bzw. historische Instrumente auch an anderen deutschen Hochschulen zu etablieren. Allerdings fanden diese Bemühungen nur wenig Anerkennung bei den anderen Fakultäten. [4] Tatsächlich bedeutete dieser Widerstand, dass an den meisten deutschen Musikhochschulen erst in den 1980er Jahren eine umfassende Ausbildung auf historischen Instrumenten möglich wurde. [5] Mit der Akademie für Alte Musik Bremen wurde 1986 eine Ausbildungsstätte gegründet, deren Curriculum bis heute als maßstabsetzend gilt. 1994 fusionierte die Akademie für Alte Musik mit dem Konservatorium der Freien Hansestadt Bremen zum Fachbereich Musik der Hochschule für Künste Bremen.
Inzwischen ist an 16 der 24 staatlichen Musikhochschulen in Deutschland das Studium eines Hauptfachs der Alten Musik möglich. [6] Unter diesen 16 Hochschulen reicht das Studienangebot von einzelnen Studiengängen für historische Instrumente (z. B. Lübeck, wo ein Studium der Kirchenmusik B mit Profil „Historische Tasteninstrumente” angeboten wird) bis hin zu groß besetzten, ein breites Spektrum abdeckenden Instituten bzw. Abteilungen, an denen eine Vielzahl historischer Instrumente im Bachelor und Master belegt werden können (z. B. in Bremen und Leipzig, wo allein im Bachelor jeweils 17 verschiedene Studiengänge Alter Musik angeboten werden).
miz Wissen
Das miz verzeichnet in seiner Institutionendatenbank die Musikhochschulen in Deutschland, die ein Studienangebot im Bereich Alte Musik haben, zumeist mit künstlerischer Ausrichtung.
Das Angebot der Veranstaltungen abseits des Hauptfachs deckt die verschiedensten Felder der Historischen Aufführungspraxis ab, von Instrumentenkunde über Generalbass, Satzlehre, Notationskunde, bis hin zu Rhetorik und Barocktanz. In vielen Fällen beinhalten diese Veranstaltungen die Beschäftigung mit originalen Quellen. So wird beispielsweise an der Hochschule für Künste Bremen im Seminar “Barocktanz” mit original überlieferten Choreografien gearbeitet, an der Hochschule für Musik und Theater München ist “Musikwissenschaftliches Arbeiten” Teil des Curriculums für Studierende der Alten Musik, die Curricula an der Hochschule für Musik Trossingen enthalten Praktika, die gezielt die Transkription historischer Notation bzw. die Fähigkeit zur Beurteilung existierender Transkriptionen vermitteln. Musikwissenschaftliches Arbeiten ist also an vielen Stellen fester und selbstverständlicher Bestandteil einer künstlerischen Ausbildung.
Auch an den Hochschulen, an denen kein Studium auf historischen Instrumenten möglich ist, existieren ausnahmslos verpflichtende Kurse zur Alten Musik, sei es in Form von Vorlesungen oder praktischen Projekten mit Spezialist:innen der Alten Musik. So müssen beispielsweise Bachelorstudierende von Orchesterinstrumenten an der Hochschule für Musik Detmold ein Semester lang das Modul “Historische Aufführungspraxis” belegen, in dem Stimmkurse am Cembalo, eine Vorlesungsreihe zu verschiedenen Themen der Historischen Aufführungspraxis, Aufführungen bzw. Workshops zu historischer Musik unter Anleitung von Expert:innen, sowie Seminare in Zusammenarbeit mit den Abteilungen Musikwissenschaft und Musiktheorie angeboten werden.
In vielen Fällen stehen den Hochschulinstituten historische Tasteninstrumente meist in hochwertigen Nachbauten zur Verfügung, teilweise auch Streich- und Blasinstrumente. Dies erleichtert das Studium im Bereich Alte Musik erheblich. Da das Lehrpersonal sich in der Regel aus namhaften Persönlichkeiten der Szene rekrutiert, können sich die Studierenden schon sehr früh in die Alte Musik-Szene vernetzen. Sie gewinnen über ihre Professor:innen und Dozent:innen Zugang zu Ensembles und Klangkörpern. Mit den zahlreichen Ensembles der Alten Musik, die inzwischen auf dem Markt agieren, gibt es auch viel mehr Beschäftigungsmöglichkeiten als in den Anfangszeiten, wo jeder, der sich in diesem Bereich betätigen wollte, praktisch ein Ensemble neu gründen musste. Heute haben Absolvent:innen die Chance, bereits bestehenden Ensembles mit einer existierenden Förderstruktur, einer Infrastruktur und Renommee auf dem Musikmarkt beizutreten.
Doch auch denjenigen, die nicht in bereits etablierte Strukturen eintreten wollen, werden Wege geboten. Eine zunehmende Zahl öffentlichkeitswirksamer Wettbewerbe (z. B. in Brügge, Utrecht, Melk, Leipzig oder in wechselnden Städten der Deutsche Musikwettbewerb) bieten die Möglichkeit, sich dem überregionalen und internationalen Vergleich zu stellen und die Aufmerksamkeit eines breiten Publikums und aktiver Veranstalter auf sich zu ziehen. Seit 1998 existiert außerdem beim Wettbewerb „Jugend musiziert“ die Kategorie Ensemble Alte Musik auf Bundesebene, zuletzt 2022 mit 42 teilnehmenden Ensembles, womit auch jungen Musiker:innen eine Plattform für Alte Musik auf hohem Niveau gegeben wird. Besonders für junge Kammermusikensembles sind diese Wettbewerbe Katalysatoren für künstlerische Qualität und Professionalität. Organisationen auf europäischer Ebene wie das Europäische Netzwerk für Alte Musik (rema-eemn.net) oder die International Young Artist‘s Presentation (IYAP) in Antwerpen bieten jungen Musiker:innen und Ensembles eine Plattform, auf der sie internationale Kontakte schließen können.
Abseits der Konzertpodien haben immer mehr Musikschulen Unterricht auf historischen Instrumenten im Angebot. Für Absolvent:innen eines Studiums der Alten Musik, die sich nicht oder nicht ausschließlich auf die Erwerbsmöglichkeiten in der freien Szene verlassen wollen, oder die ihre Zukunft eher im pädagogischen Bereich sehen, eröffnen sich hier also alternative Berufsfelder zum Konzertbetrieb, die in den 1980er Jahren noch nicht existierten. Außerdem ist seit 2014 generell ein stetiger Anstieg der Anzahl der Schüler:innen an VdM-Musikschulen zu verzeichnen (mit pandemiebedingten Rückgängen in den Jahren 2021 und 2022). [7] Angesichts der wachsenden Rolle von Musik – inklusive der Alten Musik – als Freizeitbeschäftigung werden inzwischen an mehreren Musikhochschulen entsprechende musikpädagogische Studiengänge/musikpädagogische Schwerpunkte angeboten.
Die Grenzen zwischen Alter Musik und dem Mainstream
Von Anfang an musste die Alte Musik-Bewegung sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, Historische Aufführungspraxis sei eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, weil sich die Umstände bei der Entstehung der Werke nie vollständig rekonstruieren lassen. [8] Ein anderer Vorwurf zielt in die entgegengesetzte Richtung und meint eine gewisse Kompromissbereitschaft, der die Akteur:innen der Alten Musik mal mehr, mal weniger ausgeprägt folgen, wenn sie mit Rücksicht auf die Anforderungen des modernen Musikbetriebs oder auch aufgrund eigener Überzeugungen den öffentlich proklamierten – oder zumindest unterstellten – Anspruch auf historische Genauigkeit angeblich vermissen lassen. Besonders für Musiker:innen, die sowohl in der Welt der Historischen Aufführungspraxis aber auch im modernen Orchesterbetrieb aktiv sind, ist die Frage von Kompromissbereitschaft angesichts der hohen Kosten von Instrumenten, Bögen, Saiten etc. von großer Relevanz, ebenso wie die Frage der gegenseitigen künstlerischen Beeinflussung von historischem und modernem Stil. Auf der anderen Seite gibt es weiterhin Musiker:innen, denen viel an Aufführungen gelegen ist, bei denen musikwissenschaftlichen Erkenntnissen und Fortschritten im Bau historischer Instrumente in möglichst großem Umfang Rechnung getragen wird. Sowohl für eine in dieser Weise strikte Position, was die Historische Aufführungspraxis anbelangt, wie auch für Kompromissansätze gibt es gute Gründe, und man trifft im Musikleben beides an. Reisende Ensembles müssen oft gezwungenermaßen Kompromisse in puncto Stimmton und Instrumentarium eingehen, da ausgedehnte Reisen mit Tasteninstrumenten oftmals unrealistisch sind und stattdessen die Verfügbarkeit am Konzertort akzeptiert werden muss. Die vor Ort verfügbaren Tasteninstrumente wiederum müssen ein breites programmatisches Feld abdecken – insbesondere an großen Konzerthäusern – und entsprechen selten den gelegentlich sehr spezifischen Repertoire-Anforderungen. An solchen Häusern, bei denen innerhalb kurzer Zeit eine Vielzahl verschiedener Musiker:innen mit ein und demselben Instrument versorgt werden muss, ist darüber hinaus selten viel Zeit für Instrumentenpflege vorhanden, weshalb in der Konstruktion dieser Instrumente Kompromisse zugunsten erhöhter Zuverlässigkeit unumgänglich werden (z. B. die Bekielung von Cembali mit Delrin statt Vogelfedern). Am anderen Ende des Spektrums wird vor allem beim Musizieren mit originalen Instrumenten (z. B. mit solchen, die sich im Besitz von Sammlungen oder Museen befinden) und bei Aufführungen im Rahmen von spezialisierten Festivals und Konzertreihen der Authentizität von Techniken und Instrumentarium besondere Beachtung geschenkt. Hochschulen, die ihre Studierenden angemessen auf solche unterschiedlichen Situationen des Berufsalltags vorbereiten wollen, müssen daher auch entsprechend vielfältige Studienmöglichkeiten anbieten, was tatsächlich auch geschieht.
Für Studierende eines modernen Instruments gibt es verschiedene Möglichkeiten, an deutschen Hochschulen ein historisches Instrument als Nebenfach zu wählen. Selbst an Hochschulen ohne Möglichkeit zum Hauptfachstudium in Alter Musik ist dies teilweise möglich (z. B. das Nebenfach Cembalo an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf im Hauptfach Orgel, ebenso an der Hochschule für Musik Detmold in mehreren Studiengängen). An Hochschulen, die keine Möglichkeit bieten, historische Instrumente selbst nicht im Nebenfach zu belegen, werden oftmals Projekte und Meisterkurse mit Spezialist:innen im Bereich Alte Musik angeboten (z. B. an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin mit regelmäßigen Aufführungen von Bachkantaten unter der Leitung von Raphael Alpermann, Cembalist der Akademie für Alte Musik Berlin). Die Beschäftigung mit Historischer Aufführungspraxis im Rahmen von Lehrveranstaltungen ist an allen Hochschulen verpflichtend. Denn heutzutage kommen moderne Orchester regelmäßig mit historischer Musik in Kontakt, oft unter der Leitung entsprechender Spezialist:innen. Man denke nur an die inzwischen regelmäßig stattfindenden Produktionen von Barockopern an den Musiktheaterbühnen. Deswegen ist die Aneignung eines entsprechenden Wissens auf diesem Gebiet auch für Studierende eines modernen Instruments essentiell.
Dagegen sind in den Lehrplänen für Studierende der Alten Musik Berührungspunkte zu den modernen Instrumenten quasi nicht vorhanden. Das verwundert kaum, da die meisten dieser Studierenden mit modernen Instrumenten angefangen haben. Das Masterstudium – und bisweilen auch das Bachelorstudium – eines historischen Instruments wird oft als Zusatzqualifikation zu einem bereits abgeschlossenen Studium auf einem modernen Instrument gewählt. An manchen Hochschulen werden ein Teil der Studienangebote für historische Instrumente explizit als Masterstudiengang ausgelegt (z. B. an der Hochschule für Musik und Tanz Köln oder der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover), sodass die „moderne Aufführungspraxis“ nicht eigens gelehrt werden muss. Studierende, die ihr Leben lang ausschließlich auf historischen Instrumenten musizieren, sind eine absolute Ausnahme. Gleichzeitig wird bei den Instrumentalist:innen moderner Instrumente eine zusätzliche Beschäftigung mit historischen Instrumenten deutlich offener wahrgenommen als umgekehrt: Wer sich als Akteur:in der Alten Musik auch mit einem modernen Instrumentarium auf hohem Niveau auseinandersetzen möchte, stößt oft auf Skepsis auf Seiten der Kolleg:innen der Alten Musik.
Doch nicht immer: Namhafte Akteur:innen wie Reinhard Goebel und Roger Norrington sind bekannt für ihre Bereitschaft und teilweise sogar Präferenz, Alte Musik mit modernen Ensembles und Instrumenten aufzuführen. Auch was die Lehre betrifft, gibt es erste Tendenzen, die Trennung der einst gegen große Widerstände eingerichteten Abteilungen für Alte Musik vom restlichen Hochschulbetrieb aufzuheben und stattdessen in die regulären Hochschulstrukturen einzugliedern. Hintergrund ist zum einen die reale Durchmischung der künstlerischen Ansätze, zum anderen die Vorstellung, dass künstlerische Darbietungen grundsätzlich frei von Dogmen sein sollten und sich Musiker:innen daher auch nicht in künstliche Schubladen einordnen und sich dadurch einschränken lassen sollten. [9] Besonders relevant sind diese Überlegungen im Bereich Gesang.
Unter Sänger:innen ist nämlich die Beschäftigung mit einem breiten Repertoire, das eine große historische Zeitspanne umfasst, deutlich üblicher als unter Instrumentalist:innen. Während bei den Instrumenten über die Jahrhunderte hinweg die Änderungen in den Bauformen und Spielweisen bekannt und in Quellen nachvollziehbar sind, hat sich die menschliche Stimme in ihrer grundsätzlichen Anlage nicht verändert, einmal abgesehen von Aspekten wie steigende durchschnittliche Körpergröße im Laufe der Jahrhunderte durch bessere Ernährung und der damit zusammenhängende Einfluss auf den Zeitpunkt der Mutation, das Stimmtimbre u. ä. So, wie es Usus ist, dass Professor:innen für Gesang nicht nur Studierende ihres eigenen Stimmfachs unterrichten, da die Gesangstechnik und -ästhetik unabhängig von verschiedenen Stimmfächern ist, vertreten auch einige namhafte Sänger:innen die Ansicht, dass Barockgesang eigentlich keine gesanglich spezialisierte Disziplin ist, sondern der Unterschied zum modernen klassischen Gesang sich in erster Linie stilistisch äußert. [10]
Dabei bildet der Countertenor eine Ausnahme. Da Sänger dieses Stimmfachs (überwiegend) im Falsett singen, unterscheidet sich ihr technischer Ansatz und auch ihr Weg zu einer resonanten Stimme erheblich von dem anderer Stimmfächer. Da das Repertoire der Countertenöre außerdem fast ausschließlich aus Alter Musik besteht, sind sie mehr als die Kolleg:innen anderer Stimmfächer auf spezialisierte Lehrkräfte angewiesen. Mit den Musikhochschulen in Köln, Bremen und Essen gibt es in Deutschland drei Orte, an denen Countertenöre als Professoren lehren. Festzuhalten bleibt aber, dass Sänger:innen, die ihre Zukunft überwiegend oder ausschließlich in der Alten Musik sehen, genau wie ihre Kolleg:innen an den Instrumenten sich ein umfangreiches theoretisches Wissen (Verzierungen, Quellenkunde, Notationskunde etc.) aneignen müssen.
Die Zukunft der Alten Musik an deutschen Hochschulen
Die Frage, wie sich die Situation der Ausbildung von Musiker:innen – nicht nur im Bereich der Alten Musik – entwickelt, hängt unweigerlich mit den prognostizierten Zukunftschancen von Musiker:innen zusammen. Aktuell (Stand Juli 2024) sieht sich sowohl die freie als auch die institutionelle Musikszene mit großen Herausforderungen konfrontiert: In den kommenden Jahren dürften Fördermittel erheblich gekürzt werden. [11] Die Anzahl der Orchester ist rückläufig [12] und damit auch die Festanstellungszahlen an öffentlich finanzierten Klangkörpern und Theatern. [13] Diese Entwicklung hinterlässt bereits jetzt Spuren an deutschen Hochschulen. Die Studierendenzahlen in Musikberufen befinden sich insgesamt auf einem leichten Abwärtstrend. [14] In Abteilungen mit ohnehin bereits wenigen Studierenden fällt dabei jede noch so kleine Abnahme in den Bewerberzahlen ins Gewicht. So hat mit Verweis auf niedrige Bewerberzahlen und angesichts anstehender Sparzwänge die Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar im April 2024 bekannt gegeben, ihr Institut für Alte Musik bis 2031 zu schließen und die bisher angebotenen Inhalte in anderer Form beizubehalten. 2024 hatte es lediglich sieben Bewerbungen für das Institut für Alte Musik gegeben, wobei der Vizepräsident der Hochschule vermutet, dass die Berufsaussichten der freien Szene die Hauptursache dieser niedrigen Bewerberzahlen sind. [15]
Unabhängig von Sparvorgaben und Arbeitsbedingungen stellt sich die oben bereits angedeutete Frage, ob die Alte Musik prinzipiell von eigenständigen Hochschulstrukturen profitiert oder ob sie vielmehr in den allgemeinen Hochschulbetrieb integriert werden sollte. So führte die Hochschule für Musik Trossingen ein „Zweitprofil Alte Musik” für Studierende moderner Instrumente ein, nachdem 2016 das Institut für Alte Musik mit erheblichen Kürzungen zu rechnen hatte. Man versprach sich von der Einführung dieses Zweitprofils auch eine bessere Vorbereitung auf die sich wandelnden Anforderungen an moderne Orchestermusiker:innen, von denen zunehmend Expertise in punkto Alte Musik verlangt wird. [16]
Mancherorts werden auch Überlegungen angestellt, ob separate Abteilungen oder Institute für Alte Musik noch zeitgemäß sind. Dahinter steht die Frage, ob Alte Musik als Historische Aufführungspraxis in Abgrenzung zum Mainstream der klassischen Musik überhaupt noch als gesonderter Bereich bestehen sollte. Befürworter einer (Re-)Integration der Alten Musik in den Mainstream argumentieren, dass bestimmte Arbeitsweisen und Erkenntnisse der Historischen Aufführungspraxis fester Bestandteil jedes Studiums der klassischen Musik werden sollte im Sinne einer historisch-kulturellen Hermeneutik. Ein Gegenargument besteht darin, dass trotz der wünschenswerten Offenheit der Historischen Aufführungspraxis gegenüber denjenigen, die sich ihr zwar nicht verschreiben, aber von ihr lernen wollen, ausgewiesene Abteilungen und Institute für Alte Musik weiterhin nötig bleiben werden, da Alte Musik wie eine Fremdsprache nur dann effektiv gelernt werden kann, wenn man sich völlig mit ihr umgibt. Gleichzeitig warnen manche Akteur:innen davor, den Entwicklungstand der Historischen Aufführungspraxis als abgeschlossen zu betrachten [17] und beklagen den Verlust von Pioniergeist in der Szene der Alten Musik. [18] Im internationalen Hochschulraum scheint es derzeit auf breiter Basis aber keine konkreten Ansätze zu geben, die Alte Musik aus abgesonderten Instituten in die regulären Hochschul- und Studienstrukturen zurückzuführen. Vielmehr wurde z. B. an der Universität für Musik und Darstellende Künste Wien noch vor wenigen Jahren ein Institut für Alte Musik neu gegründet. [19] Und auch in Deutschland sind solche Maßnahmen – abgesehen von der Ankündigung der Weimarer Musikhochschule – bislang nicht durchgeführt worden.
Fazit
Wo steht also die Alte Musik an deutschen Hochschulen? Sie steht – wie alle anderen Künste auch – nicht still, sondern befindet sich permanent im Wandel. Zunächst wurde die Alte Musik in der Öffentlichkeit als Liebhaberei belächelt, während sie von den Akteur:innen schon als progressive Alternative zum Klassik-Establishment betrieben wurde. Es folgte eine allmähliche Anerkennung, in deren Folge sich die Alte Musik als ernstzunehmender Teil des Musiklebens an Hochschulen wie an Konzerthäusern etablierte. Über mehrere Musikergenerationen hinweg ist inzwischen eine Gleichrangigkeit der verschiedenen Sparten erreicht worden, die sich u. a. dadurch ausdrückt, dass die deutschen Hochschulen seit den ersten Institutsgründungen in den 1980er Jahren ein zunehmend breites und differenziertes Spektrum der Ausbildung in der Alten Musik anbieten und so auf ein stilistisch vielfältiges und anspruchsvolles Berufsfeld vorbereiten können. Inzwischen gibt es einzelne Bestrebungen, die ehemals antagonistischen Lager wieder zusammenzuführen. Eine Mehrheit der Musiker:innen scheint jedoch den bisherigen Kurs weiter verfolgen zu wollen und teilt nicht die Ansicht, dass die Trennung von Alter Musik und dem Mainstream überholt ist.
Möglicherweise gehören solche Fachdiskussionen schon bald der Vergangenheit an, denn angespannte Haushaltslagen auch im Hochschulbereich besonders in Verbindung mit den an vielen Orten rückläufigen Bewerberzahlen, stellen die Beteiligten vor Herausforderungen ganz anderer Art, wie das Beispiel Weimar zeigt. Aber auch wenn Diskussionen um Institutsschließungen oder um deren Ausstattung künftig häufiger aufgrund von äußeren Einflüssen geführt werden müssen, hat die Alte Musik an den deutschen Hochschulen inzwischen einen Stand erreicht, bei dem aufs Ganze gesehen Ausbildungsangebote bereitgehalten werden, die dem breiten und differenzierten Berufsfeld im Bereich Alte Musik gerecht werden können und immer wieder auch Spitzenleistungen hervorbringen, was die regelmäßigen Erfolge von deren Absolvent:innen bei den internationalen Wettbewerben z. B. in Brügge, Melk, Utrecht, Magdeburg oder Leipzig anbelangt.
Footnotes
Aus Rücksicht auf den Lesefluss wird im Weiteren nur von „Hochschulen” die Rede sein, wobei Universitäten in dieser Formulierung mit eingeschlossen sind. Außerdem geht es, wo nicht explizit anders erwähnt, immer um deutsche Musikhochschulen und -universitäten.
Harald Heckmann: Art. „Freiburg im Breisgau“, in: Laurenz Lütteken (Hrsg.): MGG Online, Stuttgart [u. a.] 2016 ff., veröffentlicht: 1995.
Geschichte der Schola Cantorum Basiliensis. Online unter: https://www.musik-akademie.ch/schola-cantorum-basiliensis/de/uber-uns/geschichte.html (Zugriff: 01. August 2024).
Dieter Gutknecht: Die Wiederkehr des Vergangenen. Studien zur Geschichte der Aufführungspraxis Alter Musik, II. Entwicklung ab dem Zweiten Weltkrieg, Mainz 2015, S. 240f.
Gutknecht: Die Wiederkehr des Vergangenen, S. 254.
Die Musikhochschule Weimar hat im Juli 2024 bekannt gegeben, ihre Abteilung für Alte Musik bis 2031 zu schließen. Bis 2026 werden noch neue Studierende aufgenommen. Anschließend werden historische Instrumente nur noch im Nebenfach angeboten. Da aktuell weiterhin ein Studium der Alten Musik in Weimar möglich ist, wird sie hier noch zu den Hochschulen mit einem entsprechenden Studienangebot gezählt. Vgl. Deutschlandfunk, Das Institut für Alte Musik an der Hochschule für Musik in Weimar wird geschlossen. Online unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/das-institut-fuer-alte-musik-an-der-hochschule-fuer-musik-in-weimar-wird-geschlossen-102.html (Zugriff: 01. August 2024).
Vgl. die Statistik „Schülerzahlen und Altersverteilung an Musikschulen im VdM” des Deutschen Musikinformationszentrums, Bezugsjahr 2021. (Zugriff: 01. August 2024). Aufgrund einer Änderung in der Methodik der Datenerhebung sind die Zahlen vor 2014 nicht sinnvoll mit den danach folgenden zu vergleichen.
Zum Thema Authentizität den Beitrag "Alte Musik" von Richard Lorber, 2024 (Zugriff: 20 Dezember 2024).
Vittorio Ghielmi: European Early Music Summit. Online Statement: SATURDAY 21 – Vittorio Ghielmi – INTRO to The Future of Early Music Departments, eingestellt am 18. 11. 2020. Online unter: https://www.youtube.com/watch?v=dsYifshgxuo&list= PLT 0QRGU ts3zM4_s8N_H_VdGobIloe9rt_&index=29 (Zugriff: 01. August 2024).
Sandra Steindl: Interview mit Andreas Scholl 2020. Online unter: https://www.moz.ac.at/de/news/archiv/2020/03-07-andreas-scholl-ich-bin-kein-richter-sondern-lehrer (Zugriff: 01. August 2024) und Bob Rammeloo: Interview mit Sergio Foresti 2021. Online unter: https://dueventi.com/interview-with-sergio-foresti/ (Zugriff: 01. August 2024).
Deutsches Musikinformationszentrum: Landesmusikrat NRW bewertet geplante Kürzungen der Bundeskulturfonds als Bedrohung für die kulturelle Vielfalt. Online unter: https://miz.org/de/nachrichten/landesmusikrat-nrw-bewertet-geplante-kuerzungen-der-bundeskulturfonds-als-bedrohung-fuer-die-kulturelle-vielfalt (Zugriff: 01. August 2024).
Vgl. die Statistik „Planstellen der öffentlich finanzierten Sinfonie- und Kammerorchester” des Deutschen Musikinformationszentrums, Bezugsjahr 2024 (Zugriff: 01. August 2024).
Vgl. die Statistik „Personal der öffentlich finanzierten Theater” des Deutschen Musikinformationszentrums, Bezugsjahr 2023 (Zugriff: 01. August 2024).
Vgl. die Statistik „Studierende in Studiengängen für Musikberufe” des Deutschen Musikinformationszentrums, Bezugsjahr 2024 (Zugriff: 01. August 2024).
Sophie Hartmann: Trotz wochenlanger Proteste: Musikhochschule Weimar schließt Institut für Alte Musik, in: MDR Thüringen, 02. Juli 2024. Online unter: https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/mitte-thueringen/weimar/hochschule-alte-musik-studium-david-garrett-100.html (Zugriff: 01. August 2024).
Larissa Schütz: Alte Musik muss sich neu aufstellen, in: Schwäbische, 13. Juli 2016. Online unter: https://www.schwaebische.de/regional/tuttlingen/trossingen/alte-musik-muss-sich-neu-aufstellen-566980 (Zugriff: 01. August 2024).
Für eine ausführliche Darstellung verschiedener Sichtweisen siehe die Beiträge von Vittorio Ghielmi, Kelly Landerkin, Pedro Sousa und Octavie Dostaler-Lalande auf der Webpräsenz der von der AEC (Association Européenne des Conservatoires, Académies de Musique et Musikhochschulen) kuratierten Veranstaltung auf dem Early Music Summit 2020. Online unter: https://aec-music.eu/event/early-music-summit-2020/ (Zugriff: 01. August 2024).
Uri Golomb: Interview with Ton Koopman, in: Goldberg Early Music Magazine 24, 2003, S. 42-51.
Universität für Musik und darstellende Kunst Wien: Neugründung an der mdw: Institut für Alte Musik, 06. Oktober 2021. Online unter: https://www.mdw.ac.at/1669/ (Zugriff: 01. August 2024).