Eric Bibb beim Rudolstadt-Festival 2024
Eric Bibb beim Rudolstadt-Festival 2024  
Foto:  Frank Szafinski

Zwischen Nische und globalem Markt: Für Weltmusik hat sich in Deutschland eine vielseitige und öffentlich präsente Szene entwickelt. Ihr Publikum sind oft Menschen, die Aktivitäten für interkulturelle Begegnungen suchen.

Im Zeitalter globaler Migrationsbewegungen sind die Vielfalt der Kulturen und eine multinationale Zusammensetzung der Gesellschaft Normalität geworden. Weltmusik, im englischsprachigen Raum auch als Global Music bekannt, wird gerade in diesem Kontext oft als Idee eines gleichberechtigten musikalischen Miteinanders der Kulturen begrüßt; im Musikmarkt besitzt sie wie kaum ein anderes Segment den Anspruch und eine Aura des Egalitären. [1] Bisweilen aber wird Weltmusik auch kritisch gesehen – als „Fortschreibung kolonialer Strukturen“ etwa, „in denen ein übermächtiger Westen den subalternen Rest der Welt zur Befriedigung seiner Bedürfnisse nach exotischer Unterhaltung ausbeutet und dabei zweifelhafte Klischees von Authentizität reproduziert“. [2] Das Spannungsfeld zwischen diesen Positionen bietet den Rahmen für den Diskurs, was unter Weltmusik oder Global Music verstanden wird, seit wann diese Begriffe benutzt und wie sie im deutschsprachigen Raum definiert werden.

Was ist Weltmusik?

Nachdem Begriffe wie Weltmusik, World Music und Musique du Monde schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet wurden und schließlich auch verschiedene Musiksparten erreicht hatten, wurde World Music 1987 in der Tonträgerindustrie zu einer Marketingkategorie für populäre Musik aus Ländern außerhalb Angloamerikas. Elf unabhängige europäische und amerikanische Plattenlabels, die sich auf Popmusik aus Ländern der sogenannten Dritten Welt spezialisiert hatten, führten ihn ein, um eine einheitliche Marketingkategorie zu schaffen. [3] Nichtsdestoweniger zirkulierten weiterhin andere Bezeichnungen — etwa Global Pop, Ethno-Pop, Ethno-Beat, World Beat —, die teils synonym verwendet wurden. [4] Im englischsprachigen Diskurs wurde der Begriff World Music inzwischen weitgehend durch den Terminus Global Music ersetzt, der als weniger kolonialistisch und inklusiver gilt. [5] Im deutschsprachigen Raum hingegen sind seit langer Zeit beide Begriffe weiterhin gebräuchlich. Dabei bezeichnen sie seither vielfach weniger ein Musikgenre als vielmehr eine kommerzielle Kategorie für Künstler:innen wie King Sunny Adé, Youssou N'Dour, Warda, Nusrat Fateh Ali Khan oder Cesária Évora und dienen dazu, Popmusiker:innen aus sogenannten Entwicklungsländern, die auf dem internationalen Musikmarkt erfolgreich sind, zu kategorisieren. So gesehen ist Weltmusik bzw. Global Music ein Marketinginstrument, mit dem Produkte des künstlerischen Austauschs zwischen dem Norden – den USA und Westeuropa – und dem Süden der Welt beschrieben werden. [6] In diesem Zusammenhang besitzt der Begriff „Weltmusik“ häufig negative Konnotationen, etwa wenn er als nostalgisches Bild von Authentizität und als Sehnsucht nach einem musikalischen Primitivismus definiert [7] oder als westliche Aneignung nicht-westlicher traditioneller Musikformen [8] verstanden wird. Bisweilen wurde Weltmusik auch als kommerzieller Betrug angesehen, als neues musikalisches Rohmaterial aus exotischen Nationen, welches das Spektrum der internationalen Musiklandschaft mittels einer extraktivistischen Politik bereichern soll. [9] Diese negativen Implikationen des Begriffs stehen im direkten Zusammenhang mit Entwicklungen wie Globalisierung, Kolonialismus und Kulturimperialismus.

Jedoch sind auch Versuche unternommen worden, Weltmusik bzw. Global Music als Genre und musikalische Kategorie zu definieren. So gibt es die Perspektive, sie als populäre Musik zu charakterisieren, die in den 1980er Jahren entstanden ist und wonach sie weltweit kommerzialisierte Musik von Minderheiten aus Entwicklungsländern ist, die lokale Musikmerkmale mit Genres der heutigen transnationalen Musikindustrie kombiniert. [10] Eine andere Definition ist die der Weltmusik/Global Music als besondere Form der musikalischen Praxis und als Musikstil mit charakteristischen Eigenschaften, die jedoch nicht immer näher beschrieben werden. Möglich ist es schließlich auch, Weltmusik/Global Music als Synthese von Spannungen zwischen den Kategorien Moderne (bezogen auf Technologie, Warenmarkt und internationale hegemoniale Genres wie Rock und Pop) sowie Tradition (bezogen auf die Verwendung sogenannter traditioneller Instrumente oder Genres) [11] zu sehen. Entsprechend häufig gilt diese Musiksparte als modernisierte „traditionelle“ Musik oder moderne Musik mit „traditioneller Farbgebung“. Problematisch dabei ist, dass dieses vermeintliche „Genre“ gleichzeitig sehr viele Musikgenres umfasst: karibischen Zouk ebenso wie afrikanischen Reggae, lateinamerikanisches Cumbia ebenso wie Morna aus Kap Verde.

Kayhan Kalhor und Yasamin Shahhosseini, Morgenland Festival in Osnabrück  
Foto:  Andy Spyra

Nicht selten wird dieser Bereich der Musikindustrie auch mit einer Aura des Widerstands verbunden. Auf diese Weise ist er als soziales Feld mit Begriffen wie Diaspora, Multikulturalismus, Postkolonialismus, kultureller Integration und Kulturrelativismus assoziiert. [12] Weltmusik/Global Music kann nicht zuletzt auch ganz allgemein als Begriff für die Musik der ganzen Welt verstanden werden. Aus dieser Perspektive heraus umfasst sie alle global existierenden musikalischen Praktiken, ähnlich wie Philip Bohlman es bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts konzipierte, ohne sich auf ein spezielles musikalisches Repertoire einzugrenzen. [13]

Mit Blick auf diese sehr unterschiedlichen Positionen wird deutlich, dass der Diskurs zur Weltmusik/Global Music eine Reihe von Dichotomien birgt: global/lokal, modern/traditionell, gewinnorientiert/funktionell, hybrid/authentisch. Obwohl beide Begriffe mit Phänomenen und Entwicklungen wie Globalisierung, Migration, kulturelle Identität, Widerstand und Authentizität verbunden sind, wird die Art der Beziehung oft nicht näher benannt und kann manchmal sogar widersprüchlich sein: Je nach Diskurs kann Weltmusik/Global Music als Ausdruck, Vorreiter oder Resultat von Globalisierungsprozessen interpretiert werden, manchmal auch als Aneignung westlicher Elemente oder Produkt des Kulturimperialismus.

Weltmusik im deutschsprachigen Raum

In Deutschland besitzt die Auslegung der Begriffe Weltmusik und Global Music eine durchaus eigene Prägung. So versteht die Global Music Academy in Berlin unter diesem Konzept in erster Linie eine Musik, die Elemente international bedeutsamer Musikkulturen vereint. [14] Damit ist eine Art musikalisches Esperanto gemeint, das alle Musikkulturen einschließen kann, selbst wenn international unterschiedliche Abgrenzungen festzustellen sind. [15] In diesem Kontext wird Global Music als Teil eines kulturpolitischen Prozesses verstanden, der zur Förderung kultureller Vielfalt in Deutschland beitragen soll, indem man Musik von Minderheiten verhilft, sichtbar zu werden. [16]

Mit dem Begriff Weltmusik wird in Deutschland zudem eine „Szene“ bezeichnet, [17] d. h. ein Netzwerk von Personen, die virtuell oder physisch interagieren und ihren Musikgeschmack teilen. Diese Szene besteht nicht nur aus Musiker:innen, sondern auch aus Veranstaltern und Konsument:innen, und ist eng mit der demografischen Entwicklung des Landes verbunden. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts hatten im Jahr 2023 fast 30 Prozent der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund. Menschen aus vielen Nationen haben sich hauptsächlich in den Städten niedergelassen – darunter etwa 2,9 Millionen Türk:innen, rund 800.000 Menschen aus Polen und mehrere Hunderttausend aus asiatischen Ländern sowie aus Afrika und Lateinamerika. [18] Daher ist es nicht überraschend, dass die Weltmusik in Deutschland ein überwiegend urbanes Phänomen ist und Städte wie Berlin, Köln, Hannover, Hamburg oder München zentrale Standorte der Szene sind. Da die Bevölkerung dieser Städte heute multikulturell ist, hat sich auch eine neue musikalische Landschaft entwickelt, in der Popmusik von Minderheiten an Bedeutung gewonnen hat.

Henhouse Prowlers beim Rudolstadt-Festival 2024  
Foto:  Oliver Jentsch

Die beiden in Deutschland benutzten Begriffe für das Phänomen – Weltmusik/World Music und Globale Musik/Global Music – sind mehrdeutig; eine eindeutige Beschreibung gibt es bislang nicht. Das Verständnis von „Weltmusik“ überschneidet sich hier beispielsweise sogar mit dem mittelalterlichen Konzept der „musica mundana“ oder mit Karlheinz Stockhausens Idee einer supranationalen Musik. [19] Die Lesart des Begriffs als Musik, die Musikelemente international bedeutsamer Musikkulturen vereint, schließt jedoch Stockhausens Werk ebenso aus wie andere auf Fusion basierende Musikformen (Aggro-Berlin-Rap, deutsche Rockmusik), obwohl sie transkulturelle Elemente aufweisen. Der jüngere Begriff „Global Music“, der 2022 von den Grammy Awards offiziell übernommen wurde, [20] versucht hingegen, den kolonialen Implikationen des Weltmusikbegriffs zu entgehen. Sollte das Stichwort „global“ eigentlich auf die Präsenz ehemals „lokaler“ Kulturen in einem globalen Kontext verweisen, führt diese Lesart jedoch zu irreführenden Sichtweisen: So würde nach diesem Konzept die Gitarre – wahrscheinlich das verbreitetste Instrument der Welt – gerade nicht als globales Instrument gelten, während ein hauptsächlich lokales Instrument wie eine türkische Zurna deshalb als global deklariert würde, weil es etwa in Berlin oder Paris gespielt wird – selbst dann, wenn es in New York, London und Tokio unbekannt bleibt. Zudem können Konzeptionen, was als „lokal“ oder „global“ gilt, nicht losgelöst von geopolitischen Implikationen bestimmt werden.

Der Diskurs zur Weltmusik in Deutschland birgt schließlich manchmal eine subventionsorientierte Haltung, etwa in dem Gebot, „Künstler aus Entwicklungsländern“ [21]  zu fördern. Auch vor dem Hintergrund ehrlichen Engagements impliziert dies die Annahme, dass die Betreffenden sich nicht ohne staatliche oder private Unterstützung etablieren könnten. Nichtsdestotrotz spielt gerade Weltmusik eine wichtige Rolle in den Diskursen über die Integration von Minderheiten oder Geflüchteten in Deutschland, da sie dazu beiträgt, die positive kulturelle Wirkung dieser Menschen sichtbar zu machen. Weltmusik oder Global Music in Deutschland ist somit ein offenes Feld, dessen Grenzen weder begrifflich noch in den musikalischen Ausformungen klar gesteckt sind.

Aus institutioneller Sicht weist die Weltmusik-Szene in Deutschland einen weit geringeren Grad an Dichte und Verflechtung auf als etwa die des Jazz, der zeitgenössischen Musik und der Popularmusik. Gründe dafür liegen sicherlich in der noch nicht so weit zurückliegenden Geschichte dieser Musiksparte, in ihren Anfängen als kommerzielle Kategorie anstelle klar beschreibbarer stilistischer Formen wie auch in den gesellschaftlichen Entwicklungen, die im Zuge der Globalisierung erst in jüngerer Zeit eine neuartige Stilvielfalt haben entstehen lassen. So existieren heute in Deutschland im Unterschied zu zeitgenössischer Musik oder Jazz vergleichsweise wenige spezialisierte Ausbildungsangebote oder auch langfristig etablierte Förderprogramme. Und so hat sich auch die Musik selbst ihre vielen und ganz unterschiedlichen Nischen gesucht, in denen die Akteure auf die jeweiligen Verhältnisse vor Ort reagieren.

Die Szene: Preise, Festivals und Labels

Szenen als sozialer Raum post-traditioneller Vergemeinschaftung sind labile Gebilde. [22] Auch die Weltmusik-Szene setzt für ihre Mitglieder keine fest definierte Identität voraus, jedoch lassen sich einige Kriterien herausarbeiten. Ausländische Musikschaffende, die in der Bundesrepublik Deutschland leben, oder Musiker:innen mit Migrationshintergrund sind ein wichtiger Teil der Szene, ebenso deutsche Musiker:innen, die sich für fremde Musikformen oder -kulturen interessieren. Die aktiven Künstler:innen können sich sowohl eines populären als auch eines hochkulturellen Formats bedienen, solange sie musikalische Fusionen befürworten und eine weltoffene Attitüde besitzen. Neben den Musizierenden sind auch – oft deutsche – Produzent:innen und Veranstalter ein wichtiger Teil der Szene. Hauptpublikum der Weltmusik wiederum bilden keineswegs (nur) Migrant:innen oder Migrantengruppen, sondern Menschen, die Aktivitäten für interkulturelle Begegnungen suchen. [23] Allerdings wird ähnlich wie bei der klassischen Musik häufig auch für die Weltmusik ein alterndes Publikum beklagt, und bisweilen tut sich die Szene schwer, junges Publikum anzusprechen.

Für alle Beteiligten gilt, „dass die Weltmusik-Szene ganz offensichtlich (auch) jenseits egalitärer Prinzipien operiert, hat sie doch selbst Formate geschaffen, die Hierarchien und Rivalitäten nicht nur dulden, sondern zu ihrem konstitutiven Prinzip erhoben haben: Messen, Wettbewerbe und Auszeichnungen. Bei all diesen Formaten konkurrieren Musiker:innen – um Geld oder um Prestige, oftmals um beides.“ [24] Wettbewerbe und Preise schaffen andererseits aber auch notwendige Räume für die Verbreitung der Weltmusik in Deutschland. Auf Landesebene finden, getragen von den jeweiligen Landesmusikräten, die Wettbewerbe "Folk & World Music" (Baden-Württemberg) und "Creole NRW" statt. Unter den Preisen sind der Preis der deutschen Schallplattenkritik und der deutsche Weltmusikpreis RUTH zu nennen, die beide einen Fokus auf deutsche Produktionen legen. 

Africa Festival in Würzburg  
Foto:  Günther Klebinger

Festivals wiederum fungieren als Bindeglied zwischen der nationalen und der internationalen Szene, sofern sich dort sowohl Künstler:innen zeigen, die primär im internationalen Markt agieren, als auch Gruppen aus der Bundesrepublik Deutschland. Wichtige Festivals in diesem Sinn sind das Afrika Festival in Würzburg, das Latin Airport Festival in Nürnberg, das Morgenland Festival in Osnabrück und das Rudolstadt Festival Roots Folk Weltmusik, das Sommerfestival der Kulturen in Stuttgart, das Weltmusikfestival in Koblenz oder das Klangfarbe Festival in Regensburg. Einige Festivals setzen jährliche Themenschwerpunkte und fokussieren auf Aspekte wie Regionen, Länder, Musikgattungen oder Instrumentenfamilien. [25] Festivals mit Weltmusik-Schwerpunkt finden in Deutschland in fast allen Bundesländern statt, insbesondere in Bayern, Berlin, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen. Diese Festivals speisen sich oft aus internationalen Veranstaltungen wie der WOMEX (Worldwide Music Expo), einer der größten Fachmessen für Weltmusik, die jährlich in verschiedenen europäischen Städten stattfindet und ein bedeutender Treffpunkt für Künstler:innen, Agent:innen und Veranstalter:innen ist. Ein weiteres wichtiges Festival ist das Sfinks Mixed in Belgien, das seit den 1970er Jahren Künstler:innen aus aller Welt präsentiert. Durch die Zusammenarbeit mit solchen Großveranstaltungen können deutsche Festivals davon profitieren, indem sie Künstler:innen einladen, die bereits auf Europatournee sind und somit keine zusätzlichen Reisekosten verursachen.

Im Bereich Tonträger sind Labels wie Piranha Records, Outhere, Eastblock, Asphalt Tango und vor allem Putumayo besonders aktiv, die sowohl internationale als auch deutsche Künstler:innen produzieren. Weltmusik/Global Music ist zudem bundesweit im öffentlich-rechtlichen Rundfunk vertreten, vor allem aber im Online- und Webradiobereich mit derzeit 72 Sendern (vgl. dazu auch den Beitrag „Musik im Rundfunk“ von Holger Schramm). 

Engagiert in der Vermittlung und Verbreitung von Weltmusikthemen sind schließlich  PROFOLK e. V. – Verband für Lied, Folk und Weltmusik in Deutschland (gegründet 1995 in Nachfolge zu Profolk – Dachverband für Folkmusik e. V.) sowie die mit sechs Ausgaben pro Jahr erscheinende Zeitschrift „Folker“, das derzeit einzige Blatt für Folk, Lied und Weltmusik in Deutschland. Speziell für das Land Nordrhein-Westfalen sind infrastrukturelle Daten sowie aktuelle Termine im Online-Portal „Globalflux“ dokumentiert. Initiiert für Akteure, erlaubt die Plattform allen Interessierten vielseitige Einblicke in die nordrhein-westfälische Weltmusik-Szene.

Klarinettist von Une touche d'optimisme, Rudolstadt Festival 2024
Une touche d'optimisme, Rudolstadt Festival 2024  
Foto:  Michael Pohl
Yagody, Rudolstadt-Festival 2024
Yagody, Rudolstadt-Festival 2024  
Foto:  Michael Pohl
Emma Langford, Rudolstadt-Festival 2024
Emma Langford, Rudolstadt-Festival 2024  
Foto:  Silvia Hauptmann
Julian Marley, Rudolstadt-Festival 2024
Julian Marley, Rudolstadt-Festival 2024  
Foto:  Silvia Hauptmann
Momi Maiga, Rudolstadt-Festival 2024
Momi Maiga, Rudolstadt-Festival 2024  
Foto:  Silvia Hauptmann

Forschung und Ausbildung

Im akademischen Diskurs war das Interesse am Phänomen Weltmusik lange Zeit gering. Selbst Musikethnolog:innen, die ihr Fach ausdrücklich als Erforschung außereuropäischer Musik verstehen, standen der Weltmusik lange reserviert gegenüber. Rechtliche Auseinandersetzungen zwischen Künstler:innen aus dem Westen und anderen aus Afrika, Lateinamerika oder Asien oder zwischen westlichen Künstler:innen und Musikethnolog:innen wie Simha Arom und Hugo Zemp trugen dazu bei, dass Weltmusik in der musikwissenschaftlichen Literatur nicht immer positiv bewertet wurde. Auch im deutschsprachigen Raum äußerten sich Forscher:innen zunächst kritisch.

In den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts sind die Sichtweisen zunehmend anerkennender geworden. So beteiligen sich Musikethnolog:innen mittlerweile ganz selbstverständlich an Wettbewerben als Juror:innen, sind in die Organisation von Festivals als Berater:innen involviert und unterstützen Initiativen, Kongresse, Konzerte oder Ausbildungsinstitutionen.

Auch die Ausbildung spezialisierter Musiker:innen hat sich in Deutschland etwas verbessert. Neben der Global Music Academy in Berlin (gegründet 2009) werden inzwischen einschlägige Studiengänge an der Popakademie Baden-Württemberg in Mannheim und an der Hochschule für Musik und Theater Rostock angeboten. Vorbereitungskurse für das Studium sowie Angebote der Jugend- und Erwachsenenbildung gehören zum Spektrum der Orientalischen Musikakademie Mannheim, die 2008 mit dem Ziel musikalischer und interkultureller Begegnung gegründet wurde. Mit dem Projekt ETHNO bietet die Jeunesses Musicales speziell dem jugendlichen Nachwuchs in Workshops, Jam Sessions, Seminaren und Aufführungen die Gelegenheit zum interkulturellen Austausch. Das Konservatorium für türkische Musik Berlin, eine private Lehreinrichtung, vermittelt seit Jahren in Kursen Volks- und Hofmusiktraditionen der Türkei. Das Center for World Music der Stiftung Universität Hildesheim wiederum widmet sich neben eigenen Forschungen und der bundesweit einzigartigen Fortbildung von Berufstätigen im Studiengang „musik.welt – Kulturelle Diversität in der musikalischen Bildung“ auch der wissenschaftlichen Archivierung von Weltmusik. Zudem bietet die Landesmusikakademie NRW Zertifikatskurse für Musikpädagog:innen verschiedener Kulturen. In Kooperation mit der Orientalischen Musikakademie Mannheim, der Popakademie Baden-Württemberg und dem Verband deutscher Musikschulen vermittelt die Bundesakademie für musikalische Jugendbildung in Trossingen ab 2019 interkulturelle Ensemblepraxis in einem 18-monatigen Kurs „welt.kultur.praxis“, der sich an ausgebildete Musiker:innen und Musikpädagog:innen aller Kulturen richtet.

Die Etablierung der Weltmusik in der musikwissenschaftlichen Forschung und der Einzug in die Ausbildungsstätten kann als Hinweis dafür verstanden werden, dass die Weltmusik im Sinne einer Musik der kulturellen Vielfalt in Deutschland zunehmend akzeptiert wird, sowohl in der breiten Öffentlichkeit als auch in den staatlichen Ausbildungsinstitutionen.

In der Folge ist die Forschung zur Weltmusik insgesamt spezialisierter geworden. Während frühe Monografien und Artikel sich bemühten, einen historischen Überblick über die Entwicklung der Szene zu geben, bieten neuere empirische Arbeiten eine analytischere und tiefergehende Perspektive auf die Strukturen der Weltmusik als Szene. [26]

Als grenzüberschreitende Musik löst sich die Weltmusik bzw. Global Music vielerorts von den Herkunftsmusikkulturen, geht stilistische Verbindungen mit anderen Genres ein und sorgt so für ständig neue Impulse im bundesdeutschen wie im internationalen Musikleben. Trotz aller kritischer Aspekte bleibt die Weltmusik ein Raum der Konvergenz, in dem die Repräsentation fremder Kulturen neu verhandelt wird. In diesem Sinne leistet sie weiterhin einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Diskriminierung von Migrant:innen und Minderheiten und fördert den musikalischen Dialog zwischen den Kulturen.

Über den Autor

Julio Mendívil ist Professor für Ethnomusikologie an der Universität Wien. Er lehrte u. a. an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, am Center for World Music der Stiftung Universität Hildesheim und an der Universität zu Köln.
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Fußnoten

  1. Vgl. Kerstin Klenke: Messen, Wettbewerbe, Auszeichnungen, in: Claus Leggewie, Erik Meyer (Hrsg.): Global Pop. Das Buch zur Weltmusik, Bonn 2017, S. 171–179, hier S. 171.

  2. Kerstin Klenke: Weltmusik in Deutschland, unveröffentlichtes Manuskript, 2017, 2 Seiten, hier S. 1.

  3. Vgl. Tony Mitchell: World Music and the Popular Music Industry: An Australian View, in: Ethnomusicology, 1993, S. 309–338, hier S. 310.

  4. Vgl. Timothy D. Taylor: Global Pop: World Music World Markets, New York 1997, S. 1-14.

  5. Vgl. Ana Monroy Yglesias: Why The GRAMMY Awards Best Global Music Album Category Name Change Matters. Online unter: https://www.grammy.com/news/why-grammy-awards-best-global-music-album-category-name-change-matters (Zugriff: 24 April 2025).

  6. Vgl. Deborah Pacini Hernandez: Dancing with the Enemy: Cuban Popular Music, Race, Authenticity, and the World-Music Landscape, in: Latin American Perspectives, 3/1998, S. 110–125, hier S. 111.

  7. Vgl. Veit Erlmann: The Politics and Aesthetics of Transnational Musics, in: The World of Music, 2/1993, S. 3–15, hier S. 8–13.

  8. Andrew Goodwin, Joe Gore: World Beat and the Cultural Imperialism Debate, in: Socialist Review 3/1990, S. 63–80, hier S. 63.

  9. Vgl. Jocelyne Guilbault: Interpreting World Music: A Challenge in Theory and Practice, in: Popular Music 1/1997, S. 31–44, hier S. 32.

  10. S. Jocelyne Guilbault: On Redefining the “Local” Through World Music, in: The World of Music, 2/1993, 33–47, hier S. 36.

  11. Vgl. Veit Erlmann: The Politics and Aesthetics of Transnational Musics, in: The World of Music, 2/1993, S. 3–15, hier S. 7.

  12. Vgl. Daniel Siebert: Musik im Zeitalter der Globalisierung. Prozesse, Perspektiven, Stile, Bielefeld 2015, S. 144 f.

  13. Vgl. Philip V. Bohlman: World Music. A Very Short Introduction, Oxford 2002, S. XI.

  14. Vgl. Global Music Academy: Über die Global Music Academy. Online unter: https://global-music-academy.net/de/uber/ (Zugriff: 18. April 2025).

  15. Vgl. Deborah Pacini Hernandez: A View from the South: Spanish Caribbean Perspectives on World Beat, in: The World of Music, 2/1993, S. 48–69, hier S. 55–58.

  16. Vgl. Birgit Ellinghaus: Zwischen Kulturpolitik und Kreativwirtschaft: Weltmusik in Deutschland, in: Claus Leggewie, Erik Meyer (Hrsg.): Global Pop. Das Buch zur Weltmusik, Bonn 2017, S. 180–187, hier S. 185.

  17. Vgl. Daniel Bax: Weltmusik als Markt und Marke, in: Claus Leggewie, Erik Meyer (Hrsg.): Global Pop. Das Buch zur Weltmusik, Bonn 2017, S. 155–164, hier 159; Birgit Ellinghaus: Zwischen Kulturpolitik und Kreativwirtschaft: Weltmusik in Deutschland, in: Claus Leggewie, Erik Meyer (Hrsg.): Global Pop. Das Buch zur Weltmusik, Bonn 2017, S. 180–187, hier S. 182.

  18. Vgl. Statista: Verteilung der Bevölkerung in Deutschland nach Migrationshintergrund im Jahr 2023. Online unter: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1236/umfrage/migrationshintergrund-der-bevoelkerung-in-deutschland (Zugriff: 26. März 2025) sowie Bundeszentrale für politische Bildung: Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Online unter: https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61646/bevoelkerung-mit-migrationshintergrund (Zugriff: 26. März 2025).

  19. Vgl. Daniel Siebert: Musik im Zeitalter der Globalisierung. Prozesse, Perspektiven, Stile, Bielefeld 2015, S. 87.

  20. Vgl. Ana Monroy Yglesias: Why The GRAMMY Awards Best Global Music Album Category Name Change Matters. Online unter: https://www.grammy.com/news/why-grammy-awards-best-global-music-album-category-name-change-matters. (Zugriff: 24 April 2025).

  21. Birgit Ellinghaus: Zwischen Kulturpolitik und Kreativwirtschaft: Weltmusik in Deutschland, in: Claus Leggewie, Erik Meyer (Hrsg.): Global Pop. Das Buch zur Weltmusik, Bonn 2017, S. 180–187, hier S. 186.

  22. Vgl. Ronald Hitzler, Arne Niederbacher: Leben in Szenen. Formen juveniler Vergemeinschaftung heute, 3. Aufl., Wiesbaden 2010, S. 18.

  23. Vgl. Frank Lücke: Weltmusik in Deutschland. Multikulturelle Musik in den Medien, Hamburg 2011, S. 89.

  24. Kerstin Klenke: Messen, Wettbewerbe, Auszeichnungen, in: Claus Leggewie, Erik Meyer (Hrsg.): Global Pop. Das Buch zur Weltmusik, Bonn 2017, S.171–179, hier S. 171.

  25. Vgl. Frank Lücke: Weltmusik in Deutschland. Multikulturelle Musik in den Medien, Hamburg 2011, S. 80.

  26. Vgl. Talia Bachir-Loopuyt: Une musique du monde faite en Allemagne? Les compétitions Creole et l’idéal d’une société plurielle dans l’Allemagne d’aujourd’hui, Berlin 2013 und Lisa Gaup: The Politics of Diversity. An Ethnography of World Music Practices in Germany, in: Lied und populäre Kultur / Song and Popular Culture 68, 2023, S. 151-163.